Wer sich mit Yoga beschäftigt, studiert sich selbst, den eigenen Körper, die Gedanken, den eigenen Atem. Wer sich gut kennt, der begegnet den Herausforderungen des Lebens offener und selbstbewusster. Im Laufe der Yoga-Praxis kommen viele Fragen auf, ganz praktische und nach einiger Zeit des Übens auch philosophische Fragen, die das Leben an sich betreffen und die Welt, in der wir leben möchten. Oft ist vor oder nach einer Yoga-Klasse nicht genug Zeit, um seine Fragen zu stellen, daher habe ich meine Yoga-Schülerinnen und -Schüler eingeladen, mir ihre Fragen schriftlich zu senden und daraus eine Art Lehrerin-Schüler-Interview gebastelt.
Viel Spaß beim Lesen,
Eure Claudia
10 Fragen an Claudiyengar Yoga
1. Liebe Claudia, Handstand fällt mir schwer, ich habe immer Angst, meine Arme werden gleich nachgeben und ich auf meiner Nase landen…, wie kann ich mich an diese Haltung herantasten?
Claudia: Das Gefühl kenne ich noch gut. Als ich angefangen habe Handstand zu üben, hat mir ein Gurt um meine (Unter-)Arme geholfen. Du kannst an der Armstreckung und damit an der Stabilität deiner Basis arbeiten, indem du bereits im Herabschauenden-Hund (Adho Mukha Svanasana) einen Gurt benutzt. Probiere aus, was dir Sicherheit vermittelt: Gurt an den Unterarmen, Oberarmen oder direkt auf den Ellenbeugen. Flexible brauchen den Gurt eher an den Unterarmen, aber es schadet nicht, jede Position auszuprobieren und zu üben. Die nächste Stufe ist der halbe Handstand mit den Füßen an der Wand und den Beinen parallel zum Boden. Du kannst mit den Füßen auch auf einen Stuhl steigen, die Zehenspitzen in die Sitzfläche pressen und die Sitzknochen hochstrecken. Im Kinderyoga springen wir sehr viel auf einem Bein und schwingen das andere Bein gestreckt hoch und runter. Manchmal hilft es, Asanas, die uns Angst bereiten, mit Mobilität und viel Bewegung zu begegnen. Sich selbst dabei nicht ganz so ernst zu nehmen, hilft zusätzlich. Oft sehe ich, wie verbissen und frustriert Yoga-Übende an den Handstand gehen. Das ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Habt Freude, an dem was ihr tut und lasst das Ziel erstmal außen vor.
2. Wie baue ich zu Hause eine eigene Yoga-Praxis auf, womit fange ich an?
Claudia: Das ist eine sehr individuelle Sache. Ich würde sagen, fangt mit dem an, was euch Spaß macht und womit ihr euch sicher fühlt, auch wenn kein Lehrer dabei ist. Also, zum Beispiel Kinderhaltung (Adho Muhka Virasana), Herabschauender Hund (Adho Muhka Svanasana), Baum (Vrikshasana), Dreieck (Trikonasana) und natürlich Tadasana, der Berg. Vielleicht gibt es einen Grund, warum man genau jetzt mit einer eigenen Yoga-Praxis zu Hause anfangen möchte? Mehr Gelassenheit? Stressabbau? Dann würde ich Asanas üben, die das besonders fördern, z.B. Shavasana oder Viparita Karani. Es spielt am Anfang wirklich keine Rolle, wie lange oder kurz man übt und man kann fast nichts falsch machen, solange man auf seinen Körper hört und seine Atmung beobachtet. Viele Anfängerinnen und Anfänger üben zu Hause eine Klasse nach, die sie zuvor besucht haben. Was man sich aus einer Klasse gemerkt hat, hat einen wirklich berührt.
Bei der Reihenfolge ist wichtig, dass Kopfstand immer vor Schulterstand kommt und, dass am Ende 5-10 Minuten Zeit für die Schlussentspannung, Shavasana, bleibt.
3. Welche Tagesszeit ist die beste, um Asanas zu üben?
Claudia: Für mich definitiv der Morgen, aber das war früher nicht so. Anfangs bin ich immer abends in Kurse gegangen oder habe nach Feierabend zu Hause geübt. Der Körper ist weicher und wärmer am Abend, aber der Kopf ist voll und kann nicht mehr so viel Neues aufnehmen oder beobachten in der Praxis. Am Morgen ist der Kopf leer und ausgeruht, Balance-Übungen fallen leichter und man hat insgesamt mehr Kraft. Am Morgen lasse ich mir Zeit mit allen Streckungen, mache viele Wiederholungen und benutze Hilfsmittel wie Klötze oder Gurte, bevor ich voll in eine Haltung gehe. Für jeden ist der perfekte Zeitpunkt also ein anderer, den es für sich selbst herauszufinden gilt und der sich im Laufe der Jahre durchaus ändern kann.
4. Liebe Claudia: was bedeutet im Hund-mit-dem-Kopf-nach-unten, dass ich das Gewicht auf meine Beine verlagern soll? Wie spüre ich, dass das Gewicht auf meinen Beinen ist?
Claudia: Im Vierfüßler-Stand ist das Gewicht auf Händen und Knien gleichmäßig verteilt. Sobald wir die Zehen umschlagen und die Knie langsam vom Boden hochnehmen, tragen zuerst die Arme mehr Körpergewicht. Sobald wir die Sitzknochen nach hinten ziehen und die Beine strecken, verlagert sich das Gewicht mehr auf die Beine. Wenn der Abstand nicht groß genug ist zwischen Händen und Füßen oder wir den Rücken rund machen, anstatt zurück-zuziehen, ist das Gewicht immer noch mehr auf den Händen, als auf den Beinen. Je mehr die Fersen nach hinten und die Sitzknochen nach oben gezogen werden, desto mehr Gewicht kommt auf die Beine. Dann spürst du, dass die Schultern weniger Gewicht tragen. Bei den Handgelenken kannst du dann sehen, dass sie ihren starken Knick verlieren, weil die Unterarme nicht mehr steil, sondern schräg nach oben strecken. Am Ende sollen Beine und Arme gleichviel Gewicht im Hund tragen, es ist wie ein Dreieck, mit den Sitzknochen als höchste Stelle, s. »Licht auf Yoga«, von BKS Iyengar.
5. Ist der Kopfstand bei Schulter-Nacken-Problemen gefährlich?
Claudia: Nein, aber er muss abgeändert werden. Eine Alternative ist, den Kopfstand in den Wand- oder Decken-Seilen zu üben, also »rope sirsasana«. In dieser Variante können die Arme/Hände dann mit nach oben gehen und die Seile halten oder auch einen langen Stab greifen, je nach Bedarf bzw. Verletzung. Auch mit zwei Yoga-Stühlen, der Kopf dazwischen herabhängend, die Schultern auf den Sitzflächen, kann der Kopfstand geübt werden. In jedem Fall solltet ihr nicht ohne persönliche Beratung durch einen zertifizierten Yoga-Lehrer_innen loslegen, da jedes Schulter-Nacken-Problem individuell ist und eine ebenso individuelle Behandlung benötigt. Ich habe einen Schüler in meinen Klassen, dem die Vorübung sehr gut tut: Die Hände falten, Unterarme fest am Boden, Kopf hängt und berührt nicht den Boden, während man mit gestreckten Beinen immer näher an den Kopf heranläuft, bis das Becken über dem Kopf steht.
6. Gerade im letzten Jahr war es schwer für mich, mich zu motivieren. Wo nimmst du deine Motivation her, jeden Tag auf die Yoga-Matte zu gehen?
Claudia: Ich weiß, dass ich mich hinterher immer besser fühle. Mein Opa, der an den unmöglichsten Stellen – hohe Berggipfel, Baugerüste – die Umkehrhaltungen geübt hat, sagte oft: »Im Kopfstand sieht die Welt immer etwas freundlicher aus«.
Aber Spaß bei Seite, Yoga sollte nicht zu etwas werden, wozu wir uns zwingen oder überwinden müssen. Manchmal geht es einfach nicht. Als Corona ausbrach und alles Leben runtergefahren wurde und ich meine Familie von einem Tag auf den anderen für lange Zeit nicht besuchen konnte, weil gar kein Zug oder Bus etc. fuhr, war ich wie gelähmt. Ein oder zwei Tage habe ich mich auf die Matte gesetzt, mit dem festen Vorsatz, zu üben, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich saß zwei Stunden auf meiner Matte und dann bin ich wieder aufgestanden und habe sie weggeräumt. Zum Glück hatte ich meine Lehrerinnen, die sofort mit Online-Klassen loslegten und das hat mir geholfen. Auf einmal war es wieder wichtig, mit anderen zusammen zu üben, wenn auch nur via zoom. Daraus entstand die Erfahrung, dass Yoga in turbulenten Zeiten helfen kann und so habe ich wieder zu meiner eigenen Yoga-Praxis zurückgefunden. Ich habe mir jeden Tag ein Asana aus »Licht auf Yoga« ausgesucht, das ich noch nicht so gut konnte und lernen und besser verstehen wollte.
7. Wie übt man fortgeschrittene Asanas?
Claudia: Jedes Asana hat eine bestimmte Form. Viele Asanas teilen eine Form oder ein Element, z.B. finden wir den rechten Winkel in vielen Haltungen oder eine bestimmte Form der Drehung. Betrachten wir ein schwieriges Asana, dann entdecken wir in der Stellung der Beine, Füße, Arme, Hände, Brustkorb Ähnlichkeiten mit einfachen, sogenannten grundlegenden Asanas wie Tadasana oder Dandasana etc. die wir schon kennen. Das sagt uns, welche der grundlegenden Asanas wir üben können, um uns diesem fortgeschrittenen Asana anzunähern. Die Verwendung von Hilfsmitteln ist auch gut, schwierige oder ungewohnte Haltungen zu üben.
8. Wie wichtig ist dir die Yoga-Philosophie?
Claudia:
Auch wenn unsere Yoga-Tradition, Iyengar Yoga, vom Körper ausgeht, ist sie fest mit der Philosophie des Patanjali, Verfasser der Yoga-Sutren, verbunden: »yogas citta vrtti nirodhah«, das bedeutet, Yoga ist das zur Ruhe bringen aller Bewegungen des Bewusstseins, laut Patanjali. BKS Iyengar hat das auf geniale Weise in eine körperliche Übungspraxis gebracht, denn zuvor bedeutete Yoga vor allem Meditation in einer sitzenden Haltung. Aber wie kann man seine Gedanken zur Ruhe bringen, wenn der Rücken schief und krumm ist und schmerzt? Also, hat Iyengar den Körper in den Mittelpunkt gestellt. Sein Yoga ist Meditation in der Aktion, also im Asana selbst. Um in einer Haltung meditieren zu können, muss der Körper zunächst völlig ins Gleichgewicht gebracht werden, d.h. beide Arme, beide Beine müssen sich gleichmäßig strecken. Beide Körperflanken gleich lang sein. Das erfordert muskuläre Arbeit und die Fähigkeit, zu erkennen, ob die Arme auch wirklich gleich stark strecken oder nicht. Jeder von uns hat eine starke, eine schwächere Seite, eine steifere, eine offenere. Dies gilt es im Selbststudium herauszufinden. Für mich ist die Asana-Praxis Teil der Yoga-Philosophie und umgekehrt; Das eine gibt es nicht ohne das andere. Nehmen wir zum Beispiel einen weiteren wichtigen Lehrsatz von Patanjali: abhyasa vairagyabhyam tan nirodhah - Tatkräftiges Üben und Loslassen sind die Mittel, um die Bewegungen des Bewusstseins zur Ruhe zu bringen; beides ist also gleichermaßen wichtig: Bemühung, Anstrengung und Loslassen, Nicht-erzwingen. Das lässt sich auf Yoga-Haltungen ebenso wie auf andere Bereiche des Lebens übertragen.
9. Hast Du auch mal einen Tag, an dem Du gar nicht übst?
Claudia:
Nicht weitersagen: Ja. Selten, aber ja, und das ist mittlerweile auch ok für mich. In der Vergangenheit habe ich mich (und andere) immer gestresst, um ja auch jeden Tag zu Üben. Zum Beispiel nach einem langen Anreisetag zum Fringe Theater Festival in Schottland, wo ich dann in einem winzigen Hostelzimmer, in dem noch vier andere Schauspielerkolleginnen untergebracht waren, zwischen Kostümen und Reisetaschen vor der Toilettentür meine Matte ausgebreitet habe. Im Nachhinein glaube ich nicht, dass das mich so unglaublich weitergebracht hat auf meinem Yogaweg. Man lernt dazu. Iyengar hat auf diese Frage mal geantwortet, dass er immer und überall Yoga übe, selbst während eines Interviews. Das ist ein ermutigender Gedanke, finde ich, und eine Einladung, gleichermaßen aufmerksam, sorgsam, konzentriert und gelassen zu sein bei allem, was man tut und was um einen herum geschieht.
10. Was ist Deine Vision als Yoga-Lehrerin?
Claudia:
Vom allerersten Augenblick an, in meiner ersten Yoga-Klasse als Erwachsene, habe ich mich absolut »ich selbst« gefühlt, d.h. wer ich wirklich bin und sein möchte in dieser Welt. Dieses unglaubliche Gefühl von Echtheit, Wahrheit, Authentizität und natürlich auch körperlichem und geistigem Wohlbefinden, Gesundheit, Kraft und Ausgeglichenheit, möchte ich gerne an alle weitergeben, die von mir lernen möchten.
Namaste.
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Claudia Lamas Cornejo ist selbstständige PR-Managerin und freie Journalistin sowie Iyengar-Yoga-Praktizierende und -Lehrerin.
Ihr Projekt "Iyengar Yoga Blog" verfolgt das Ziel, Themen rund um das Studium und die Praxis des Yoga zu beleuchten, Übungstipps zu geben und verschiedene Stimmen der Iyengar Yoga Gemeinschaft zu Wort kommen zu lassen:
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